Claudia Koppert
Rätselhafter Verbleib eines Schweinehirten
Sottrum, am 20. des Juli Anno Domini 1693
Auf Kantate, den 4. Sonntag nach dem Heiligen Osterfeste, hatte ich in unserer Kirche mehrere Taufen angesetzt. Einzig Swinnerk aus Stapel, obschon bereits ein Bursche, blieb seiner Taufe zu meiner großen Verwunderung fern. Noch gegen Ende des März, da ich aus Steinfeld kommend den Horster Wohld durchschritt, hatte ich mit ihm gesprochen. Auf mich aufmerksam geworden, war er dem hohlen, ausgebrannten Eichenstumpf entstiegen, in dem die Schweinehirten von jeher Zuflucht finden. „Mit dir wird es noch ein übles Ende nehmen!”, empfing ich ihn erbost, da er die Stirn hatte, sich in dem vermaledeiten Horster Walde blicken zu lassen, was ihm vom Amtmann bei Strafe von 1 Reichstaler strikt verboten war. In aller Vertraulichkeit kam er herausgeklettert, so dass ich mich entsetzt frug: „Geht es mit rechten Dingen zu, dass er solche Unverfrorenheit an den Tag legt? Ist wahrhaftig bodenlose Einfalt die Ursache? Oder doch unerhörte Dreistigkeit, wie die Horstedter behaupten, die Dreistigkeit eines, der mit dem Teufel im Bunde steht?”
Die ganze unselige Geschichte, in die Swinnerk verwickelt war, jagte mir durch den Kopf. Denn freilich beschweren sich die Horstedter seit langem beim Amtmann über die Stapeler, die nicht das Recht hätten, ihre Schweine zur Mast in den Horster Wohld zu schicken, und dies doch tun wider Gesetz und Sitte. Aber seit der Stapeler Schweinehirt verstorben und Swinnerk dessen Amt zugefallen war, wuchs der Horstedter Unmut gefährlich an. Die allgemeine Dürftigkeit von Weide und Mastung schien für die Schweine der Stapeler seitdem nicht mehr zu gelten, unter Swinnerks Obhut sind sie feist und fruchtbar geworden. Wie gut der Stapeler Schweine dastehen, konnte ich mich letzten Sommers vergewissern, da ich die Witwe Windeler aufsuchte und dabei ihre frisch abgeferkelte Sau zu sehen bekam. Die unbescholtene Weibsperson vermeinte zu wissen, Swinnerk kenne Mastplätze, dahin nie ein Hirt die Rotte geführt, was doch an sich nicht verwerflich sei.
Um mich her tote Stämme und Strauchwerk, des Namens Wald ist der Horster Wohld längst unwürdig, kahlgeschlagen und kahlgefressen wie alle Forste der Umgegend, so dass es die wenigen Rehe zur Äsung auf die Felder treibt, wo sie die Bauern zur Wilderei verleiten. Mittendrin stand ich mit Swinnerk, seine Füße schwarz und bloß – ob ihm sein Bruder zur Taufe Schuhwerk ausleihen werde, frug ich ihn. Grimassen der Freude überliefen sein Gesicht. Dasselbe schwärzlich verfärbt wie sein Hals, seine Arme, die Hände; ob sie jemals mit sauberem Wasser Berührung gehabt? Jetzt lugte er hierhin, dorthin, dann lachte er wieder, weil er mich getroffen. Gebärdet sich so einer, welcher des Teufels ist?
Das Gemunkel darüber hat seit letzten Martini überhandgenommen und allmählich das ganze Kirchspiel in Unruhe versetzt. Swinnerk soll es gar zu toll getrieben haben: Soll den rechtmäßig hier seine Rotte mästenden Horstedter Hirten aus dem Wald verjagt und zu allem Übel dessen Schweine entführt haben, so dass weder am Tag noch in der folgenden Nacht die Horstedter eine Spur von ihnen entdecken konnten. Dafür behaupten sie, in selbiger Nacht Swinnerks Schweine die letzten Eicheln des Horster Waldes schürfen gesehen zu haben. Die Horstedter erzürnten sich darüber gewaltig, schworen wohl sogar, sie würden Swinnerk einfangen und eigenhändig aus ihm herausbringen, wo die Schweine gewesen, ob er sie verhext und dumm gemacht. Diesmal werde er seine Dreistigkeit büßen, büßen würden desgleichen die Stapeler, welche von seiner Dreistigkeit profitierten.
Erleichtert dachte ich, dass Swinnerk diesmal wenigstens ohne Rotte unterwegs war, denn von seinen Schweinen hörte und sah ich jetzt nichts. Ich ermahnte ihn ernstlich, dass er hier nichts zu suchen habe, schon gar nicht um diese Jahreszeit, wo die Huth im Walde verboten. Nannte ihn gleichviel bei dem christlichen Namen Lüer, den ich im Kirchenbuche für ihn ausgesucht; sein Großvater trug denselben, bei der Taufe sollte dieser Name nun seiner werden. Verlegen, dann wieder verschmitzt dreinblickend, folgte er meinen Worten. Auf seine bevorstehende Taufe schien er gar recht ansprechbar, was mich freute, um ein Weniges beruhigte und für ihn einnahm, so dass ich ihn schließlich anhielt, mich eine Wegstrecke zu begleiten. Da legte er flugs zwei Finger an die Zunge, ein gellender Pfiff - und die bis dahin unsichtbaren Schweine liefen herbei; er hieß sie unter einem Gebüsch zurückbleiben. Mit beklommenem Herzen war ich nun Zeuge seines Treibens geworden und dessen, was allgemein gesagt wird: dass die Rotte auf ihn hört, wie nicht der klügste Hund seinem Herrn gehorcht. Allein die Aussicht auf seine Taufe gab mir Zuversicht, dass er doch noch auf den rechten Weg zu bringen sei.
Ob ihm seines Bruders Frau die Kleidung zur Taufe richte, frug ich ihn. Dass er sich waschen müsse, gemahnte ich. Insonders schien er sich auf die Kirche zu freuen, die er zum ersten Mal besuchen würde. Wie er über die Heide Richtung Taaken neben mir her hüpfte, behende die Kürze seines verkrüppelten linken Beins manövrierend, aufgeregt und voller Vorfreude, schien er mit sich und der Welt im Reinen. Zog gar das Bildchen unserer lieben Kirche hervor, welches ich ihm geschenkt, und zeigte es mir stolz. Worin er es verwahrte, da sein Kittel ganz zerlumpt, weiß ich nicht. Zum Abschied versprach er mir in die Hand, er werde rechtzeitig zur Stelle sein, um endlich in die Christengemeinschaft aufgenommen und Gottes Segen teilhaftig zu werden. Das war wegen der unglücklichen Umstände seiner Geburt versäumt worden. Sein Vater, Claus Stockfisch, wurde kurz vor Swinnerks Geburt von einem niedersinkenden Baum schwer verletzt, wovon er sich nicht mehr erholt. Seine Mutter, Mete Stockfisch, verschied im Wochenbett, worauf sich die Viehmagd des Krüppels annahm, von dem alle glaubten, dass er bald sterben würde. Von klein auf soll er sich mehr bei den Schweinen als unter Menschen aufgehalten haben, was ihm den Spottnamen Swinnerk eintrug. All dies erfuhr ich erst vor 2, 3 Jahren, da ich in Stapel die Katechismus-Unterweisung aufnahm. Bis dahin wusste ich nicht das Geringste von seiner Existenz. Das viele Elend, welches unseren Landstrich seit langem in den Klauen hält, bringt solcherart Übelstände mit sich.
Nachdem ich Swinnerk angehalten, umzukehren, setzte ich meinen Weg fort. Es war ein für Ende März ungewöhnlich warmer Spätnachmittag, allein meine mit Mühe gefundene Zuversicht wich alsbald beunruhigenden Gedanken. Vom bösen Blut allerorten, von alten und neuen Landesherren, welche keine andere Ordnung kennen wollen als ihr Vorrecht und damit ein übles Vorbild abgeben. Wie schwer es in solcher Zeit ist, den armen Menschen ihre christliche Pflicht gegeneinander und gegen die Obrigkeit in Erinnerung zu halten. Ich nahm mir vor, Swinnerk bei der Taufe das 7. Gebot einzuschärfen, auf dass es ihm im rechten Augenblick mit Wucht in den Sinn fahre: „Du sollst nicht stehlen!”
Böse Ahnung beschlich mich sogleich, da ich am Taufsonntage merkte, Swinnerk blieb aus. Frug ich Stapeler Kirchgänger nach seinem Verbleib, trugen sie mir treuherzig dasselbe vor wie die aus Horstedt oder Taaken: Auf der Straße sei im Verlauf des Mittwoch ein Haufe Spießgesellen, der sich im Holländischen zum Sold verdingen wollte, Richtung Bremen gezogen. Man sei heilfroh gewesen, als dieser vorüber; aber womöglich habe sich Swinnerk diesem angeschlossen, denn seither ward er nicht mehr gesehen. Hatte ich zuerst stille Zweifel an dem Durchzuge, wurden diese alsbald zerstreut: Der Händler Moses Jacob aus Bremen, selbigen Tags mit Viehzeugs auf dieser Route unterwegs, soll sich unverzüglich in Sicherheit gebracht haben, als er den Haufe auf sich zukommen gesehen. Und vom Ottersberger Pastor vernahm ich, dass er den Durchzug mit eigenen Augen beobachtet, allerdings von ferne. Gleichwohl hielt ich es für höchst unwahrscheinlich und tat dies auch kund, dass Swinnerk auf solche Art abhanden gekommen, denn sein verkrüppelt Bein machte ihn für den Kriegsdienst untauglich.
Die Sache ließ mir keine Ruhe, zumal ich verspürte, dass man auf mein beharrliches Nachfragen immer öfter den Blick abwandte und vertrotzt die Schultern hob. So nahm ich auf Trinitatis das „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth” zum Anlass, über die von Gott auferlegte Bruderpflicht zu predigen: Wie Gott Kains Neid auf seinen Bruder Abel erregte, indem er sein Opfer zurückwies, während er Abels Opfer gnädig empfing. Bei der Stelle angelangt, da Kain seinen Bruder bereits erschlagen hat und sich, da Gott ihn nach Abels Verbleib fragt, mit den Worten dumm stellt: „Ich weiß nicht, bin ich denn meines Bruders Hüter?”, meinte ich, den einen oder anderen aus der Gemeinde unter mir sein Gesicht zu Boden neigen zu sehen. Allein Elisabeth Warnke aus Horstedt unterließ jede Mühe, ihr grimmiges Antlitz vor mir zu verbergen. Voller Inbrunst widerlegte ich Kains Lüge: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde … Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben!”, rief ich, unter mir dicht gedrängt meine Gemeinde, die Augen jetzt gegen mich aufreißend. Allein jene Elisabeth schlug sie beschämt nieder. Während manchen Älteren sie in rechtschaffenem Schlummer längst zugefallen waren.
Nach Trinitatis wuchsen meine Unruhe und Bekümmernis. Alle paar Tage passierte es mir, dass ich frühmorgens beim ersten Licht aus wirren Träumen aufschreckte, eine eilends dahinhüpfende, einsame Gestalt lebendig vor Augen. Von der Gefahr, die ihr drohte, bekam ich indes nichts zu fassen. Schnell fuhr ich aus dem Bette.
Auf den 2. Sonntag nach Trinitatis, da einige Männer aus der Umgegend nach dem Gottesdienst auf dem Kirchplatz beisammen standen, trat ich hinzu, um ihnen guten Heimweg zu wünschen. Sie verstummten auf einen Schlag, was nicht ungewöhnlich ist, aber ihre Mienen wollten mir diesmal nicht gefallen. Kaum hatte ich meine Wünsche beendet, richtete Hinrich Cordes aus Reeßum das Wort an mich, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen: Womöglich sei Swinnerk gut beraten gewesen, die Weihen Gottes zu scheuen. Geweihtes Wasser entflamme sich bekanntermaßen, wenn der Leibhaftige Macht über einen Täufling habe. Trotzig schielte er mich an, indes über die Gesichter der Umstehenden wechselnd Zustimmung und Unmut huschten. Wenn mir eines üble Laune verursacht, ist es der Hochmut derer, welche sich in göttlichem Recht wähnen. – „So, meint Ihr?” – eine Antwort nicht abwartend, beeilte ich mich wegzukommen. Ich war außer mir, beschwor mich, nachzusinnen, Einkehr zu halten, Rat zu suchen, um ihnen kein Unrecht zu tun. Die folgenden Tage fastete und betete ich, auf dass ich meinen Gleichmut wiederfände. Aber ich gewahrte in mir nur den mächtigen Wunsch, endlich in Erfahrung zu bringen, was Swinnerk zugestoßen. Um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen, aber mehr noch, um meiner Gemeinde ein für alle Mal die Gehässigkeit, Niedertracht, Schadenfreude, den Hochmut auszutreiben, welcher sie befallen. Mir schien, Swinnerks rätselhafter Verbleib beförderte die Fantasie und Launen auf ungute Weise. Solcherart Unruhe ist gefährlich, ja von ausgesucht teuflischer Wirkung. Sie entzweit die Menschen und verbittert sie, Gemeinheit, Angst, Groll bemächtigen sich ihrer und rauben ihnen den Mut füreinander. Mir selbst erging es nicht anders: Überall meinte ich Hohn und Spott mir entgegengebracht zu sehen, da mein Plan, Swinnerks Seele zu retten, offensichtlich misslungen.
Dieser Tage wieder im nördlichen Kirchspiel unterwegs, ergriff ich die Gelegenheit, noch einmal Nachforschung zu halten. Und wenn es nur wäre, um mich endlich damit abzufinden, dass Swinnerks Verschwinden ein in Gottes Hand gestelltes Rätsel bliebe, sagte ich mir.
Catharina, die Frau von Swinnerks ältestem Bruder, der einen Stapeler Herrenhof in Gebrauch hat, traf ich hinterm Haus bei der Erbsenernte an. Zwei kleine Kinder stolperten fröhlich im Kohlgarten umher, an der Nase wie am Nabel die Haut gerötet und wund verkrustet. Sprach ich zu ihnen, versteckten sie sich sogleich bei ihrer Mutter. Catharina wusste nichts. Und wenn sie etwas hätte wissen können, hätte sie es nicht wissen wollen, sagten mir ihre müden Augen. Keine Spur mehr von jenem holden Lächeln, welches sie innerst zu erfüllen schien, als sie von mir den Trausegen empfing. Da ich nun einmal bei ihr stand und Worte der Ermunterung mir nicht recht auf die Zunge wollten, sagte ich: „Der Mairegen fehlte dieses Jahr.” Die Kohlpflanzen waren klein, dafür frisch gehackt. „Recht hat er, der Herr Pastor”, ließ sie verlauten und bedeutete mir, wo ich ihren Mann wohl finden könne.
Wie seine Frau gewiesen, traf ich ihn mit Knecht und zweitem Bruder beim Hochfeld hinterm Dorfe an. „Versündige dich nicht gegen deinen Bruder, du wirst wissen, wie es Kain erging”, sagte ich zu ihm. Er unterbrach sein Tun kaum, flocht und wand mit rascher Hand die frischen Austriebe dicht in die Hecke, ein großer Mann mit breiter Brust, Nacken und Schultern gebeugt, wiewohl er noch keine 25 Jahr. – „Lass man, Herr Pastor”, sagte er endlich, den Blick zu mir hebend, ein Blick, in dem nichts zu finden. Er habe Swinnerk gesucht, überall: „Nichts.” Mag sein, die anderen hätten recht mit der Vermutung, dass er sich dem Haufe Spießgesellen angeschlossen. Seinen leeren Blick aufs Land gerichtet, sagte er noch, er habe Swinnerk nicht übel gewollt, wiewohl ihre Mutter, selig sei sie, als man ihr das verkrüppelte Neugeborene gezeigt, vom Grauen hinweggerafft worden. Der Gedanke an den Tod der Mutter trübte ihm die Augen. Aber allzu arg habe Swinnerk es zuletzt getrieben, sich nichts sagen lassen, sei immer unterwegs gewesen mit der Rotte. Die Schweine hätten ihn verteidigt, wilder als jeder Hund seinen Herrn.
Cord Schlohboom, welcher die Horstedter Dorfschaft beim Amt vertritt, ein Landmann von unbestrittener Gesittung, hörte mich aufmerksam an. - Ja, man habe gewusst, dass Swinnerk getauft werden sollte, aber ihn in der Woche davor nicht gesehen. - Ob er das beeiden könne? - Das könne er wohl, für sich und die Seinen. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen, nur noch ein eindringliches: „Ich bitt Ihn, hör er mit dieser Geschichte auf, Herr Pastor.”
Recht in Gedanken an diese Worte, betrat ich den Hof von Jürgen Warnke. Ein Knecht spannte gerade das Pferd ab, im Vorübergehen hörte ich ihn raunen: „Solches Gewese um einen Teufelssohn.” Es hätte keinen Zweck gehabt, ihn zur Rede zu stellen. Der Hausherr antwortete mir dagegen ohne Verlegenheit: „Nein, nicht von Augenschein gesehen.” – Was er damit meine, „nicht von Augenschein? Im Dunkeln?” – Er verfiel in jenes Schweigen, mit dem sie anzuzeigen pflegen, sie verstünden keine Spitzfindigkeit, man möge sie in Ruhe lassen. Indes ich von ihm fortging, rief er mir nach: „So oder so, Swinnerk hätte es verdient gehabt.“ – „Schweige er oder sage er, was er weiß!“, herrschte ich ihn an, mich nach ihm wendend. Wie zu erwarten, schwieg er und setzte seine Arbeit fort. Wieder hatte ich nichts in der Hand.
Auf dem Rückwege Richtung Taaken entdeckte ich Jürgens Frau, selbige Elisabeth, deren Grimm mir im Gottesdienste aufgefallen war. Sie molk eine Kuh. Ich nahm es als Zeichen: Sie allein sollte mir noch Rede und Antwort stehen, dann würde ich es gut sein lassen. Als ich neben ihr auftauchte, sah ich ihren Blick in Fassungslosigkeit versinken, schnell neigte sie sich wieder dem Eimer zu, einen Gruß murmelnd, dann war nur noch das Spritzen der Milch und das Käuen der Kuh zu hören. – Fleißig und kundig werkten ihre Hände, allzu armselig war ihr Kleid. Ich ließ ihr und mir Zeit. Niemals fällt es mir ein, ein Wort gegen die weltliche Obrigkeit zu richten, ich kenne die Pflichten meines Amtes. Doch in diesem Augenblick neben der armen Frau sagte ich wider all meine Gewohnheit: „Ich weiß, manches Mal erscheint uns Gottes Prüfung allzu maßlos und ungerecht.” Nach Dreikönig waren ihr Vater und ihre zwei Brüder wegen Wilddieberei mit Zuchthaus bestraft und von der schwedischen Herrschaft zum Militärdienst begnadigt worden. Elisabeth blickte mich aus den Augenwinkeln an, misstrauisch, verloren, unglücklich. „Du bist recht und gutwillig, das weiß ich”, fuhr ich fort. Aber dass ihr Grimm ihr keineswegs fromme, ja ihr zuletzt schaden werde. – So gut wie an den Galgen gebracht, obgleich getauft, da habe niemand gefragt, wo ihr Vater, die Brüder geblieben, flüsterte sie, Tränen rannen ihr über die Wangen. Mich dauerte die arme, von Jammer geschüttelte Frau. Ihr Vater und ihre Brüder waren mehreren Malen beim Jagdfrevel erwischt worden, sie wussten, was ihnen drohte, wies ich Elisabeth dennoch zurecht. Die Armut, das Unrecht, allenthalben ineinander gewirkt zu immer größerer Not. Wo Swinnerk geblieben, ging ich sie an. Einzig, dass er sich beim Moore aufgehalten, brachte ich endlich aus ihr heraus, der Pferdeknecht habe ihn beobachtet, verriet sie mir. Dann, die Kuh war längst gemolken, hielt sie plötzlich still und frug, nach allen Seiten lauernd: „Einen Heiden erschlagen ist doch keine Sünde?” Hastig wischte sie ihre Hände an der Schürze ab, ergriff die beiden Milcheimer. Ich widersprach ihr und ließ sie doch gehen. Sie flüsterte noch etwas von „gutem Heimweg”.
Ich hatte genug gehört, wenn mir auch noch keine Gewissheit beschieden war. Meinen Weg gen Sottrum fortsetzend, fand ich die ersehnte Erleichterung. Ich würde den Fall nicht zur Anzeige bringen. Nicht Verdacht gegen Leute erheben, welche durch die Härte ihres Daseins gestraft und schon einmal vom Recht schwer getroffen waren. Zumal das Amt sich kaum mit einem verschwundenen Krüppel befassen wollen würde, dessen Geburt nicht einmal im Kirchenbuche festgehalten war. Unrecht gebärt stets neues Unrecht, eine Anzeige würde diesen vom Teufel gewollten Kreislauf nicht unterbrechen. Swinnerks Schicksal und das derer, welche sein Abhandenkommen besorgt, konnte ich endlich in Gottes Hand legen. Lang ausgebliebene Worte des Trostes und der Ermutigung traten mir, da diese Entscheidung getroffen, auf die Zunge. Worte der Hoffnung und der Besänftigung, gegen welche sich auch Elisabeths Herz nicht mehr sperren würde. Meiner Aufgabe in der Gemeinde war ich, da ich die Kirchturmspitze zwischen den Eichenkronen ausmachte, wieder gewiss.